Zählt ein Unternehmen nur eine Handvoll Mitarbeiter, sind die Leitungen kurz und jeder weiß was der andere tut. Hans kümmert sich um die Buchhaltung, Peter ist Marketer und sollte es Fragen geben, sitzt der Chef schräg gegenüber. Aber was, wenn der Kundenstamm wächst, die Aufträge größer werden und die Aufgaben komplizierter?
Bei vielen Unternehmen nimmt mit steigender Anzahl der Mitarbeiter auch die Hierarchie im Unternehmen zu. Ein Manager für die Marketingabteilung, ein Manager für die Buchhaltung. Darüber die Unternehmensleitung, die alle wichtigen Entscheidungen fällt. Je höher in der Hierarchie, desto größer die Verantwortung. Linienorganisation wird diese Form der Unternehmensstruktur auch genannt. Aber gerade das war es, was Ruben Timmerman (33) nicht wollte. “Ich mag keine hierarchischen Modelle. Dass eine Gruppe Manager dem Rest erzählt, was er zu tun hat. Ich merkte hingegen, dass Menschen gerade dann schnell lernen, wenn man Ihnen viel zutraut und sie Verantwortung übernehmen lässt.”
Die Suche nach der passenden Organisationsstruktur
Timmerman gründete Springest vor fünf Jahren: eine Webseite zum Vergleichen von Weiterbildungen. In den Niederlanden begonnen, hat sich Springest inzwischen auch in Belgien, Deutschland und England etabliert. Ein weiterer Erfolg, Sanoma – einer der bekanntesten Medienkonzerne in den Niederlanden- investierte kürzlich in Springest. Zählte Springest vor wenigen Jahren noch 15 Mitarbeiter, sind es heute schon doppelt so viele. Auf der Suche nach einer Organisationsstruktur für das schnell wachsende Unternehmen kam Timmerman schließlich in Kontakt mit Holacracy, einem integralen Ansatz, der auf den Amerikaner Brian Robertson zurückgeht. In den Niederlanden war Timmerman der erste, der Holacracy in die Unternehmenspraxis implementierte. Holacracy versteht sich dann auch selbst nicht als Modell oder Theorie, sondern als Praxis. Eine Praxis, die das Handwerkszeug zur Kontrolle organisationeller Aktivitäten bereitstellt. Noch ist Holacracy jedoch am Anfang. Weltweit arbeiten schätzungsweise 100 Unternehmen mit Holacracy, in den Niederlanden sind es gerade mal eine Handvoll.
Die Holacracy-Bibel: 30 Seiten Holacracy
In einem fünftägigen Kurs erklärt Robertson wie Holacracy funktioniert. Dass das Training eine ganze Woche in Anspruch nimmt ist nicht weiter verwunderlich, wagt man einen Blick in die Holacracy Constitution, das Handbuch zur Praxis. Ein Regelwerk von 30 Seiten, in dem Robertson dem Leser die Kern-Praktiken und Methoden von Holacracy erläutert. Und auch Robertson weiß um die Komplexität seines Ansatzes, weist er den Leser bereits an früher Stelle darauf hin, dass es schwierig ist Holacracy “wie so viele andere Praktiken […] auf kognitivem Wege vollständig zu begreifen, ohne es tatsächlich erfahren zu haben”. Doch so schwer ist es gar nicht! Denn einfach ausgedrückt ist Holacracy nicht mehr als ein Satz an Regeln für die Zusammenarbeit ohne Manager. Autorität und künstliche Hierarchien werden ersetzt durch eine “Holarchie” von selbstorganisierenden Teams (“Kreise”). Ein Kreis wird begriffen als Holon, als eigenständige Einheit und Teil eines Ganzen. Jeder Kreis hat Mitglieder, die multiple Rollen ausfüllen. Eine Rolle setzt sich wiederum zusammen aus verschiedenen Zuständigkeiten, welche gleichzusetzen sind mit Aktivitäten wie z.B dem Moderieren von Meetings.
Zuständigkeiten in jeweiligen Rollen festlegen
Obgleich es viele Regeln innerhalb von Holacracy gibt, schreibt Holacracy keine feste Organisationsstruktur vor. Vielmehr stellt Holacracy Methoden bereit, die dabei helfen, auf Basis der vorhandenen Informationen zu entscheiden und zu handeln. Von Unternehmen zu Unternehmen kann sich die Organisationsstruktur daher unterscheiden. So schreibt Holacracy vor, dass es in jedem Kreis einige erforderliche Rollen für die Basisfunktionen (die Organisation und Leitung eines Meetings) geben muss. Diese Rollen können grob mit Positionen übersetzt werden, jedoch kann man innerhalb von Holacracy mehrere Rollen ausfüllen. Das Holacracy ohne Manager funktioniert hat mit diesen Rollen zu tun. Jeder Mitarbeiter hat einzigarte Rollen inne und jeder ist für das richtige Ausführen dieser allein verantwortlich. Timmerman, der selbst sechs Rollen inne hat: “Jeder bestimmt selbst, wie er seine Arbeit macht”. Ist jeder für etwas verantwortlich wird auch der sog. Bystander-Effekt vermieden: zehn Leute sehen was passiert, aber niemand handelt. Allerdings muss man auch mit so viel Freiheit umgehen können. Wer seinen Zuständigkeiten nicht gerecht wird, wird seiner Rolle entmächtigt. Diese Aufgabe übernimmt der Lead Link (verwandt mit dem traditionellen Manager), der neu definierte Rollen den Mitgliedern der Organisation zuweist. Über die Einführung und die Definition neuer Rollen wird gemeinsam entschieden.
Eine berechtigte Frage an dieser Stelle ist: Woran merkt man, dass jemand seine Aufgabe nicht gut erledigt, wenn doch jeder für sich selbst verantwortlich ist? “Das merkt man ziemlich schnell in den Meetings”, erklärt Timmerman. Wenn sich jemand vage gibt z.B. im Hinblick auf die Entwicklung seiner Projekte. Alles ist nämlich sehr transparent innerhalb von Holacracy. Was man macht und wie man vorankommt ist für jedes Organisationsmitglied sichtbar.” In den letzten fünf Jahren haben ungefähr acht Mitarbeiter Springest verlassen. Einer von ihnen sagte: ‘Ich bin nicht so exhibitionistisch. Ich möchte nicht immer mitteilen, was ich gerade mache. Möchtest du nicht ständig Verantwortung ablegen, passt du hier nicht her.’
Letztlich ist es sehr effizient
Wie Holacracy in der Praxis funktioniert kann man bei einem Taktik-Meeting (“Tactial”) sehen. An einem Mittwochmorgen sitzen sieben Leute aus dem Kreis “Sales” zusammen. An der Wand ein Bildschirm auf dem die Agendapunkte stehen. Diese werden in einem gemeinsamen Computerprogramm festgehalten. Alles wird notiert, von der Checkliste (Handys aus) bis zum Projektupdate. ‘Zu Helpscout wechseln’ ist ein Agendapunkt. Ein anderer “Bestehende Partnerverträge evaluieren”. Derjenige, in dessen Zuständigkeit diese Aktivität fällt, berichtet ob das Projekt noch läuft (‘no change’) oder nicht (‘change’). In ein paar Sätzen fasst er oder sie die Entwicklung zusammen. Debbies Rolle ist es, die Updates direkt im System anzupassen. Bei einem der Punkte entsteht Verwirrung: Von wem stammt diese Aktivität und und zu wem gehört sie? Für Ewout entsteht hier Spannung (“Tension”), denn obgleich seine Rolle nicht zur Aktivität passt, steht sein Name bei dieser. Die Spannung löst sich jedoch schnell auf, als deutlich wird, dass diese Handlung zu Pierrots Zuständigkeiten gehört. “Eine Spannung bezeichnet den Unterschied zwischen einem Ist-Zustand und einem Soll-Zustand”, erklärt Timmerman. “In diesem Fall war nicht deutlich, wessen Aufgabe es war und dann besteht die Gefahr, dass Aufgaben liegen bleiben.”
Doch Timmerman weiß auch, dass Holacracy viel Zeit in Anspruch nimmt. Alles muss notiert und festgehalten werden, denn nur so ist es transparent und das ist das Allerwichtigste innerhalb von Holacracy. Alles, wirklich alles, ob es nun um eine Zahl in Tabelle X oder das Schreiben einer E-Mail geht, wird benannt und jemandem zugeschrieben. “Aber es lohnt sich, denn letztlich ist es sehr effizient”, so Timmerman. “In anderen Organisationen sind Meetings oftmals chaotisch, viel Geschwafel, niemand kommt zum Punkt! Bei uns ist es anders und wir alle sehen darin einen großen Vorteil”. Doch selbst bei Springest kennt die Transparenz Grenzen. Denn auch wenn die Arbeit so transparent wie möglich sein soll, bleibt ein Aspekt geheim: das Gehalt. “Ich würde es offenlegen, aber niemand bittet mich darum. Die meisten Mitarbeiter wollen nicht, dass ihr Lohn bekannt wird. Auf jeden Fall hat dieses Thema noch nie zu Spannungen in einem Meeting geführt.”
Dieser Artikel ist in der niederländischen Zeitung NRC Next erschienen.